Laudatio auf Anaïs Meier – Förderpreis Komische Literatur 2022

Ein Geständnis zum Einstieg: Gerhard – der Protagonist aus dem Roman »Mit einem Fuss draussen« – hatte es anfangs nicht leicht in unserem Verlag. Unsere Programmrunde, die auf Einstimmigkeit beim Programmieren festgelegt ist, hat sehr lange und sehr intensiv über das Buch von Anaïs Meier debattiert. Relevanz war eins der Schlagwörter, um die sich die Diskussion drehte.

Helge Schneider, Anaïs Meier (Foto: Simone Etter)

Ich war auf die mir übliche Weise blauäugig und nichtanalytisch an die Lektüre des Manuskripts gegangen und hatte mich voller Freude in den Kosmos von Gerhard begeben. Der Egelseepark, die Ente, der man nicht so richtig über den Weg traut, das Einkaufszentrum hinter dem Bahnhof, Gerhards Einzimmerklause, Jazz-Zigaretten und Salbeitee, habe mit Frau Blüehler ein Glas Rosé gezischt – kurz, ich war in einem beseelten Zustand.

Das Buch fand letztendlich seinen Weg in unser Programm, auch dank der vielen gewichtigen Stimmen, die Anaïs Meiers Schreiben lieben. Michelle Steinbeck, die das Buch an uns vermittelt hat. Tabea Steiner, die Meiers erstes Buch, einen Kurzgeschichtenband, bei mikrotext untergebracht hat. Michael Stauffer, der 2009 an dieser Stelle den Förderpreis für grotesken Humor entgegennehmen durfte und als Dozent am Literaturinstitut in Biel Anaïs Meier mit dem vorliegenden Buch betreut hat. Auch Helge Schneider hat seinen Anteil, wenn auch in passiv-konsumierender Form durch Anaïs.

Helge Schneider (Foto: Anja Köhne / Stiftung Brückner-Kühner)

Jetzt wo Anaïs Meiers Wirken mit einem Preis belohnt wird, können wir uns der in Frage gestellten Relevanz widmen. In der titelgebenden Kurzgeschichte des Buches »Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken« erfährt man, wie Berge uns Menschen manipulieren und wie Menschen mit den daraus resultierenden Minderwertigkeitskomplexen umgehen: in dem sie kleine Menschen aus Ton gestalten – Gartenzwerge. Und dass am Ende das Meer an der Misere Schuld trägt. Absurder Text mit solidem Wissenszuwachs in Psychologie und dabei sehr, sehr lustig. Kein wichtiger, aber ein sehr interessanter Fakt nebenbei: Im selben Jahr, in dem Anaïs Meier geboren wurde, wurde in der Schweiz die Internationale Vereinigung zum Schutz der Gartenzwerge gegründet!

In einer Rezension zu ihrem Debüt war zu lesen: »Anaïs Meier ist ein böser Mensch. Und wir benötigen dringend mehr davon.« Das war natürlich als Kompliment gemeint, ist dennoch nicht ganz zutreffend: Anaïs ist bestimmt kein böser Mensch. Mehr von ihrer Sorte benötigen wir dennoch dringend!

Anaïs Meier (Foto: Anja Köhne / Stiftung Brückner-Kühner)

Sie kann allerdings wahnsinnig gut wütend schreiben, zum Beispiel in dem Text »Geständnisse einer Notfallverhütenden«, wenn der Frauenarzt die Pille danach nicht einfach so verschreibt, sondern meint, vorher gründlich und grob untersuchen zu müssen. Der Text ist mit einer so komischen Danksagung abgeschlossen, dass ich sie lesen möchte. (Anaïs Meier ist nicht mit der Protagonistin gleichzusetzen, die jetzt hier spricht.)

Ich danke der 24h Apotheke Bern Bahnhof für ihren Humor und das Verständnis dafür, dass eine Neunzehnjährige nicht schwanger werden möchte; dem Marienhospital Stuttgart für die interessante Einführung in den angewandten Katholizismus; dem Gynäkologen Herrn Dr. Ulrich in Ludwigsburg für seine wie-auch-immer Einschätzung der Notfallverhütung in der Schweiz und für die durch ihn gewonnene Erkenntnis meinerseits, dass ich seine Praxis nie wieder betreten werde; sowie insbesondere Herrn Dr. C. A.; Apotheker und Leiter der Blösi
Apotheke Basel, für seine wertvollen Party-Tipps

Sie schreibt über unfassbare Zustände. In »Die Ehre der Schildkröte« über das Frauenwahlrecht in der Schweiz- oder wie man besser sagen sollte – das Frauen ausschließende Wahlrecht in der Schweiz. Erst 1990 im letzten Kanton abgeschafft und das nicht freiwillig, sondern per Dekret vom Bund. Auch in diesem Text zeigt sie sich als Meisterin: den anzugreifenden Zuständen wird lustvoll mit köstlicher Absurdität ein doppelter Hieb versetzt. Wussten Sie, dass Hannibal nicht nur Kriegselefanten, sondern auch Riesenschildkröten über die Alpen brachte?

Relevant wird Anaïs Meier aber auch für die Literaturgeschichte werden, sie hat die »Crazy Ellipse« eingeführt. Teile eines Textes können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden und ergeben dabei immer ein dramaturgisch angenehmes Ganzes.

Leif Greinus (Foto: Anja Köhne / Stiftung Brückner-Kühner)


Anaïs Meier ist nicht böse. Nein, im Gegenteil. Kommen wir zu Gerhard zurück. Gerhard – einer, der Völkerkunde studiert hat – wenn auch nur ein paar Wochen – in Südamerika unterwegs war um dann in der Schweizer Gesellschaft nicht richtig Fuß zu fassen, sieht einen Fuß im See und erfindet so für sich endlich eine Aufgabe: als Kommissär.

Was Anaïs Meier auszeichnet, ist bei aller Schrägheit mit der uns Gerhard und die anderen Protagonisten des Romans begegnen, eine tiefe Liebe zu ihrem Personal. Alle sind sie Figuren, von denen man sich in der Realität eher abwendet, auf jeden Fall nicht zuwendet. Anaïs Meiers große Gabe ist es, dass wir, so wie sie von ihnen erzählt, genau diese Menschen in den Blick nehmen, ernst nehmen und ihnen voller Empathie begegnen.

Zitat Anaïs Meier: aus einem Interview »Das, was die Menschen in der Schweiz dringend optimieren müssen, ist ihre Empathiefähigkeit«. Und das gilt sicher nicht nur für die Schweiz.

In einem von Helmut Kraussers Tagebüchern steht – sinngemäß – ich weiß nicht, ob ich mit meinem Schreiben die Welt verbessere, aber ich hoffe darauf, dass sie zumindest nicht noch schlechter wird. Ich glaube, Anaïs Meier schafft es mit ihren Werken die Welt ein Stück besser zu machen, und wir, die wir ihre zukünftigen Bücher lesen dürfen, werden unendlich Spaß haben. Danke! Leif Greinus

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert