Junot Díaz: Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao

Endlich wieder eine Buchrezension in unserer schönen Rubrik »Stiefbücher«. Um es gleich vorwegzunehmen: Dieser Roman hat mich umgehauen, nicht mal zwei Tage für 384 Seiten, ich konnte ihn einfach nicht weglegen. Es ist eine Familiensaga, ein politisch unkorrekter Immigrationsroman mit einem Schuss Magischem Realismus, dazu etwas Trashkultur und Pop. Junot Díaz hat für »Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao« (Amazon Partnerlink) den Pulitzerpreis 2008 bekommen.

Zum Inhalt:

Alles Negative, was im Leben so passiert, ist für einen Dominikaner erklärbar mit »fukú«, dem Todesfluch. Und der Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina, der die karibische Insel mehr als 30 Jahre lang terrorisiert hat, ist der Hohepriester des Fukú. Alle seine Feinde trifft der Fluch. Logisch, dass so auch der Mord an Kennedy (der mal ein Attentat auf Trujillo befahl) und der Vietnamkrieg (wegen Lyndon B. Johnsons illegaler Invasion der Dominikanischen Republik) erklärt werden kann. Fukú spielt im Roman jedenfalls eine wichtige Rolle.

Oscar ist zu Beginn seines Lebens ein »richtiger Kindergarten-Casanova«, ein typischer dominikanischer Mann (wie der Autor selbst konstatiert), bereits mit sieben Jahren hat er mehrere Freundinnen und ist der verwöhnte Mittelpunkt seiner Familie. Doch nur wenige Jahre später ist der Spaß vorbei: Er wird fett, richtig fett. Und das heißt: keine Mädchen mehr, keine richtigen Freunde, er ist einfach uncool, eine Witzfigur. Ihm bleibt nur die Flucht ins Nerdige: Comics, Rollenspiele und Science Fiction. Dummerweise wird er gleichzeitig von einem unbändigen Verlangen gemartert, er sehnt sich nach Mädchen. Schlimm, dass seine ältere Schwester mit wahrhaft begehrenswerten jungen Frauen befreundet ist, die, wenn sie zusammen joggen gehen, aussehen »wie das Sprinterteam im Paradies für Terroristen«, und deren Gespräche über Jungs und Sex der arme Oscar miterleiden muss. Er flüchtet sich immer mehr in seine Parallelwelt und bringt es darin zu einiger Meisterschaft. Alles scheint darauf hinauszulaufen, dass er der erste männliche Dominikaner wird, der als Jungfrau stirbt.

Der erste Teil des Buches ist schreiend komisch, erst nach und nach entfaltet Juno Diaz dann die gesamte tragische Geschichte von Oscars Familie. Und obwohl der Ton locker und schnodderig bleibt, erfährt man auf diese Weise mehr als genug herzzereißend Trauriges über das Leben in einer fast surrealen, extrem gewälttätigen Diktatur.

Da ist Oscars bereits erwähnte Schwester Lola, die unter der dominanten Mutter Beli leidet und als Teenager von zuhause abhaut. Beli wiederum hat von Kindesbeinen immerzu kämpfen müssen (was sie aber auch hart und willenstark gemacht hat), sie wurde als Kleinkind nach dem Tod der Eltern versklavt, später zum Glück von einer Tante aufgespürt und großgezogen. Dann gerät sie jedoch an einen Gangster, der sich erfolgreich in der Diktatur behauptet. Beli wandert schließlich in die USA aus, wo sie eine Familie gründet: Oscar und seine Schwester werden hier geboren.

Oscars Großvater Abelard ist ein erfolgreicher und berühmter Arzt und entstammt einer der vornehmsten Familien des Landes. Mut zeichnet ihn nicht gerade aus, er hat sich eingerichtet und bleibt unter dem Radar des Diktators. Irgendwann bekommt er jedoch ein ernsthaftes Problem: eine seiner Töchter wird wunderschön – was den Appetit des Diktators entfacht, der alle Frauen im Land quasi als sein Eigentum betrachtet. Zu diesem Zweck beschäftigt er Spione, die ihm junge Frauen aus dem ganzen Land zuführen. Abelard schafft es eine Weile, seine Töchter zu verstecken. Doch als ihn und seine Familie schließlich eine Einladung  zu einer Party eines Nachbarn erreicht, wo auch Trujillo erscheinen soll, ist ihm klar, worum es geht. Ein einziges Mal beweist er Mut – und geht allein. Ein großer Fehler.

Aber ich will hier nicht zuviel verraten. Eine wichtige Rolle spielt noch der Erzähler des Buches namens Yunior, ein bindungsunfähiger Frauenheld, der auch eine Zeitlang mit Oscars stolzer Schwester zusammen ist, diese aber natürlich betrügt. Er und Oscar lernen sich am College kennen, und er versucht ihm dabei zu helfen, endlich seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Ob es klappt, und was im Laufe der Geschichte mit Oscar geschieht, behalte ich hier für mich.

Fazit:

Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao ist ein furioser Roman, spannend, tragikomisch, drastisch, surreal, auch sehr lustig und sprühend vor Sprachwitz. Die Erzählkonstruktion (Rückblenden, Wechsel der Erzählperspektiven und Zeitsprünge) ist komplex, funktioniert aber bestens, die Familiengeschichte ist sehr gut nachvollziehbar. Díaz‘ lakonische, an Slang und Popkultur geschulte Sprache hat mir ebenfalls gefallen. Sehr gut fand ich z.B. die Idee, immer wieder spanisch-dominikanische Slangbegriffe einzuflechten, was die Authentizität erhöht. (Es gibt aber ein umfassendes Glossar). Das Lesen macht jedoch auch fassungslos und traurig, man leidet mit einzelnen Figuren und deren Schicksal. Und nebenbei lernt man kopfschüttelnd ein kleines karibisches Land und seine neuere Geschichte kennen.

Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao - Juno Diaz

Die Zeit hat übrigens eine so schöne und treffende Beschreibung gefunden, dass ich sie abschließend hier zitieren muss:

»Es ist eine Saga, ein monumentaler Familienroman, ein Immigrantenepos, eine von tausend fremden Kulturen aufgeladene, literarische Soap, eine karibische Liebesgeschichte, ein eklektizistisches Wunder: die Story eines Jungen und seiner Schwester, deren Eltern und deren Eltern, eine Geschichte der Dominikanischen Republik und des mörderischen Diktators Rafael Leónidas Trujillo Molina, eine Geschichte von Flüchen, Aberglauben, der Gier nach Sex, eine Geschichte der Landflucht, der neuen und der alten Heimat, des Rassismus, der Demütigung durch Gedemütigte, der Sehnsucht nach Nähe, der Sehnsucht, dass man irgendwann einmal in den Nacken eines Menschen atmen darf, den man liebt: vielleicht nicht mehr in diesem Leben, nicht mehr in diesem … Hier ist magischer Realismus des dritten Jahrtausends, Gabriel García Márquez auf Speed.«

Junot Díaz: Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (Amazon Partnerlink), Roman; aus dem Englischen von Eva Kemper; Fischer Verlag, 2009; 381 S., 19,95 €

5 Kommentare

  • Patrick sagt:

    Oh ja, das Buch ist wirklich sehr gut. Ich habe es vor einigen Monaten während meines Mexico Urlaubs gelesen. In der englischen Version ist kein Glossar für die spanischen Einwürfe dabei aber da ich ohnehin gerade in Mexico gewesen war, hat es sprachlich wunderbar gepasst ;-)

    Ich kann das Leben des Oscar Wao auch nur empfehlen!

    Viele Grüße
    Patrick

  • Sebastian sagt:

    stimmt, auf englisch macht es bestimmt auch viel spaß zu lesen. aber zum glück ist es auch sehr gut übersetzt, man kann also beruhigt zur deutschen version greifen …

  • Stephan sagt:

    verflixt, da bist du mir mit deiner rezension zuvorgekommen;)
    nein, aber im ernst: was für ein tolles buch! super fand ich vor allem die permanente steigerung: je öfter das wort „fukú“ fällt, umso mehr scheint alles auf eine große katastrophe hinzusteuern – perfekt komponiert. außerdem wird „watchmen“ zitiert, was braucht ein gutes buch mehr?

  • Sebastian sagt:

    ist mir gar nicht aufgefallen. aber wahrscheinlich entdeckt man noch mehr solcher versteckten kunstgriffe, wenn man das buch ein zweites mal liest. ich bin jedenfalls sehr auf ein neues buch von diaz gespannt!

  • Patrick sagt:

    An dieser Stelle kann man eigentlich nur nochmal auf „Extremely Loud & Incredibly Close“ verweisen, eines meiner Lieblingsbücher. Es hat große Ähnlichkeiten zu Oscar Wao (Zeitsprünge, immer wieder wechselnde Charaktere im Mittelpunkt, umfangreiche Familiengeschichte und lustig und traurig zugleich): http://www.amazon.de/Extremely-Incredibly-Close-Jonathan-Safran/dp/0141025182/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert