von Nikita Afanasjew
Alesj Krutkin war gerade aus dem Knast entlassen worden. Er saß in einem Café am Bahnhof von Minsk, seine Augen sprangen wild hin und her, wobei sein linkes Brillenglas mittig gerissen war und es so aussah, als hätte er drei Augen. Er sollte dann Pizza bestellen, schaute in die Karte, sein Blick wurde leer, er legte sie wieder weg, rutschte in seinem Stuhl hin und her. Irgendwann sagte er: „Bei der nächsten Wahl wird Lukaschenka abgewählt. Keiner will ihn mehr!“ Er stotterte stark.
Es tat beinahe physisch weh, neben Alesj zu sitzen, so sehr hielt er der Welt nicht stand. Seine Wangen waren unrasiert, sein Nacken schien krumm, seine Hände zitterten. Ich traf ihn im März dieses Jahres, an einem der letzten Tage, bevor Corona das Leben anhielt. Ich war in Belarus, um für ein Porträt der Menschenrechtlerin Olga Karatch zu recherchieren. Sie saß mit am Tisch, hatte Alesj erst kürzlich, nach einer vorherigen Haftstrafe, „psychisch wieder zusammengesetzt“ und war sich sicher, dass es ihm gut tat zu reden. Immerhin sie war sich also sicher. Hinterher bat Olga eine Kollegin, mit Alesj zum Optiker zu gehen. „Er macht es ja sonst doch nicht.“
Alesj erzählte wirr, bruchstückhaft. Er hatte viele Aktionen gegen die Staatsmacht initiiert. Der Kampf war zu seinem Leben geworden. Einmal war er verhaftet worden, nur weil er Aufkleber gegen den Präsidenten geklebt hatte, ein anderes Mal nicht freigekommen, weil er auf die Frage eines Polizisten, wann er endlich Ruhe geben würde, geantwortet hatte: „Wenn nicht ich, sondern Lukaschenka in dieser Zelle sitzt!“ Immer und immer war Alesj inhaftiert worden. Zuletzt wurde seine Haftstrafe von 15 Tagen einen Tag vor seiner Freilassung nochmal um 15 Tage verlängert. Und dann nochmal. Einer dieser Psychotricks einer Diktatur.
Olga hatte mir einmal erklärt, was so ein Regime wie das von Lukaschenka mit den Menschen anrichte. „Es macht neun von zehn Leuten apathisch. Einige wenige aber werden zu Bulldozern.“ Ich sah in diesen Tagen im März Apathie, leere Straßen, Blicke, eingefrorene Zeit. Ich traf auch die anderen, die starken, die Bulldozer. Es war oft schwer, mit ihnen zu reden, weil sie völlig in ihrem Furor gegen die Willkür der Macht aufgingen. Olgas Einteilung der belarussischen Gesellschaft klang für mich sinnhaft. Alesj aber fiel durchs Raster. Er war weder apathisch noch stark.
Ich habe an diesem Tag seinen Kampf für vergeblich gehalten. Wenn er sagte, dass Lukaschenka bald abgewählt werden würde, klang Alesj für mich wie ein armer Irrer, der sich so sehr von einer unmöglichen Wahrheit überzeugt hatte, dass er wirklich an sie glaubte. Belarus wirkte auf mich so fest gefangen in den Händen eines Puppenspielers, so erstarrt in seiner anachronistischen Gegenwart, dass ich alle Kämpfer gegen das Regime für mutig, aber realitätsfremd hielt. Es trug sicher nicht dazu bei, an Wandel zu glauben, dass an der dem Café gegenüberliegenden Hausfront, mitten in Minsk, im Jahr 2020, oben an der Fassade gut sichtbar ein Schriftzug glänzte: Stalin.
Olga Karatch ist seit Beginn der Proteste ebenso in Litauen wie Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Sie hat vermutlich die Präsidentschaftswahl im August gewonnen, auch wenn das wirkliche Ergebnis vielleicht nie publik werden wird. Alesj hatte Recht. Lukaschenka wurde abgewählt. Keiner will ihn mehr. Zumindest wollen ihn so viele Menschen nicht, dass sie trotz offener Gewalt, willkürlicher Inhaftierungen und ständiger Gefahr auf die Straße gehen.
Ich muss immer wieder an Alesj denken, wenn ich Bilder aus Belarus sehe. Ich hätte seinen Kampf nicht für vergeblich halten sollen. Er war in all seiner wahnhaften Widerspenstigkeit näher an der Realität dran als ich. Vielleicht hätte ganz Europa den Kampf der Belarussen nicht über so viele Jahre für vergeblich halten und mit dem Diktator kooperieren sollen.
Ich weiß nicht, wie es Alesj heute geht. Hoffentlich wird er wirklich erst Ruhe geben, wenn nicht er, sondern Lukaschenka hinter Gittern sitzt.