
„Als Verlag mit ostdeutschen Wurzeln und europäischer Identität ist dieser Literaturpreis einer der wichtigsten, den wir in den 20 Jahren seit Gründung erhalten haben.“ Leif Greinus
„…Wie ein Hund“. Dies sind bekanntlich die letzten Worte des Josef K. aus Kafkas Roman „Der Prozess“. Er sagt sie, als ihm im Steinbruch am Rand der Stadt ein Fleischermesser ins Herz gestoßen wird.
Diese Worte des Josef K. kamen mir am 8. April 2021 in den Sinn, als ich erfuhr, dass die neue Auflage meines Romans „Europas Hunde“ an der Grenze zwischen Litauen und Belarus vom belarusischen Zoll beschlagnahmt worden war. Wie ein Hund, dachte ich und lächelte. Europas Hund.
Mein Buch, geschrieben fünf Jahre zuvor, wurde als extremistische Literatur eingestuft. „Extremismus“ ist das Etikett, das das Lukaschenka-Regime auf alles klebt, was sich nicht kontrollieren lässt und was seine Ängste nährt. Das bedeutet, dass du einfach von der Liste der Lebenden gestrichen wirst. Von nun an wirst du nur noch in der Liste extremistischer Materialien erwähnt. Jetzt ist sie der einzige Ort, an dem deine Existenz noch irgendwie bestätigt wird.
Gut möglich, dass einfach das Wort „Europa“ auf dem Cover meines Buches die Zollbeamten erschreckt hat. Die Europaphobie des Regimes in Belarus ist wirklich pathologisch. Sie haben so große Angst davor, Europa zu sein, als wäre dies ein Verbrechen. Als wäre es gefährliche Häresie, Europa zu sein. Oder eine Infektion, die an der Grenze gestoppt werden muss.
So wurde der Roman „Europas Hunde“ als erstes belletristisches Werk in der Geschichte des unabhängigen Belarus offiziell vom Lukaschenka-Regime verboten. Später wurde der Verleger des Romans Andrej Januškievič für seine verlegerische Arbeit verhaftet, er verbrachte 28 Tage im Gefängnis. Inzwischen wurde „Das letzte Buch von Herrn A.“, ein weiterer Roman von mir, auf Antrag der Geheimpolizei als extremistisch eingestuft und verboten. Zur Zeit sind alle meine Werke in Belarus verboten, ebenso die Werke weiterer unerwünschter Autoren. Weder mein Verleger noch ich wurden gerichtlich vorgeladen. Das Verfahren war geheim, schnell, anonym und muss wie Schmierentheater ausgesehen haben ‒ wie im Finale von Kafkas Roman.
Seit nunmehr vier Jahren bekomme ich Nachrichten aus Belarus, meine Bücher würden dort verbrannt oder mit Traktoren unter die Erde gebracht. Meine Bücher werden aus allen Buchhandlungen und Bibliotheken entfernt. Was ich in meinem Roman beschrieben habe, wird heute rasch finstere Wirklichkeit. Der Faschismus, früher nur ein fades Wort aus meiner sowjetischen Kindheit, ist im postsowjetischen Belarus Realität.
Jahr für Jahr werde ich in meinem Exil gefragt: Warum sind Ihre Bücher so gefährlich für die Machthaber? Ich stelle mir dagegen eine andere Frage: Haben die Zensoren die von ihnen verbotenen Bücher gelesen? Können sie überhaupt lesen?
Zensur ist eine pervertierte Kunst des Lesens. Zensur ist, „schädliche und abträgliche“ Worte im Text ausfindig zu machen ‒ auch wenn sie gar nicht da sind.
In meinem Roman gibt es keine Aufrufe zur Machtergreifung und zur Revolution. Da gibt es weder politische Agitation noch oppositionelle Propaganda. Alles, was es da gibt, ist Literatur. Literatur, die niemandem dient. Weil sie immer ein individueller Akt der puren Freiheit ist. Mehr noch, sie ist die einzige gewaltfreie Form der Freiheit. Musik der Sprache. Sarkasmus, Satire, Spiel… Literatur ist immer ein großes Spiel!
Was ist Sprache?, frage ich mich. Was ist die Sprache der Macht? Und wo ist die Macht der Sprache? Ist eine ideale Sprache möglich? Was bedeutet es, ein Gott zu sein, sich das Recht herauszunehmen, Geschöpfen, Phänomenen und der Zeit Namen zu geben? Kann ein Mensch dieser Kraft standhalten, ohne verrückt zu werden?
Wahre Literatur spricht nicht über Lukaschenka oder Putin. Wahre Literatur spricht über Sprache ‒ und über Zeit.
Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit. Zukunft bedeutet unweigerlich den Tod des Despoten. Wahre Literatur versucht die Realität in drei Dimensionen zugleich zu sehen. Sie spricht gleichzeitig mit denjenigen, die waren, mit denjenigen, die da sind, und mit denjenigen, die noch kommen. Mit Menschen der Vergangenheit, Menschen der Gegenwart, Menschen der Zukunft. Deshalb muss der Schriftsteller historisch denken können. Er muss die ersten Warnsignale erkennen, die Gefahr sehen, lange bevor die Katastrophe eintritt.
„Europas Hunde“ ist mein Versuch, solche Signale zu erkennen und in den kommenden Tag hineinzuschauen. Leider ist vieles, was ich im Roman geschrieben habe, wahr geworden oder wird weiterhin wahr. Der vorhergesagte Krieg hat begonnen und dauert an. Das Russische Reich, das ich im Roman beschrieben habe, ist eine finstere Herausforderung für Europa, für die Freiheit, für die Kultur. Seit mehreren Jahren stellt sich die mutige Ukraine dem russischen Nazismus entgegen. Zwischen unserer freien Welt und dem Russischen Reich steht heute nur die ukrainische Armee. Eine Armee, in der auch belarusische Einheiten gegen das Imperium kämpfen.
Wir dürfen die Freiheit nicht im Namen eines fiktiven Friedens, im Namen von Kompromissen verraten. Es gibt keine demokratischen Imperien. Ein durch Zugeständnisse an die Terroristen im Kreml erreichter Frieden würde bald einen neuen, noch größeren Krieg über Europa bringen. Die Luft in meinem Europa zittert und riecht wie im August 1939.
Wo ist in diesen Wirren Belarus? Was ist heute mein Belarus? Der Strategische Wald des Russischen Reichs? Ein Geist, der in dem großen dunklen Haus Europa herumspukt? Eine Leerstelle, die unsere Nachbarn nicht zu füllen wissen? Vielleicht. Aber Belarus bedeutet auch eintausendfünfhundert politische Gefangene. Zehntausende unschuldige Verurteilte. Hunderttausende politische Emigranten. Ein gewaltloser, verzweifelter, jenseits der Grenzen von Belarus oft unsichtbarer Widerstand derer, die in Belarus geblieben sind. Ich hoffe, dass mein Roman eine andere, komplexere Vision von Belarus bietet. Belarus ist ein anderes Europa. Vergewaltigt, aber noch am Leben. Belarus träumt von der Freiheit.
Wie vor tausenden Jahren ist Europa ein Ort, dem man entfliehen kann, ohne ihn zu verlassen. In Europa kann man bleiben, ohne die Möglichkeit, nach Europa zurückzukehren. Ein trauriges europäisches Paradox.
Was Europa ist, hängt von der Sprache ab, in der wir darüber sprechen. Ich spreche, denke, habe Träume und Albträume und schreibe Bücher auf Belarusisch. Die belarusische Sprache ist eine überlebende Sprache. Sie hat die lange sowjetische und die Russifizierung Lukaschenkas überlebt. Diese Sprache lebt im 21. Jahrhundert weiter. Ja, diese Sprache ist unser Schmerz und unser Schatz zugleich. Wer weiß, vielleicht wird sie eines Tages nur als unsere kleine Spur im Sand Europas verlaufen. Aber heute lebt sie ‒ als Beweis unserer europäischen Identität, als ein Symbol des Widerstands. Aber vor allem lebt sie als die Sprache der freien belarusischen Literatur ‒ die auch im Exil versucht, mehr zu sein als eine düstere Anklage oder ein dokumentarisches Zeugnis.
Alle Bücher sprechen miteinander. Aber sprechen Bücher auch noch mit Menschen? Oder nur unter sich? Oder genießen vielleicht nur die großen Sprachen das Privileg, Dialoge zu führen und Bedeutungen zu bestimmen?
Die Große Europäische Romankunst ist heute bedroht. Komplexität und Polyphonie, Tiefe und Experiment, Sprache und Geheimnis, die innere Zeit des Romans und seine psychologische Kraft ‒ der moderne Mensch hat immer weniger Lust darauf. Er verlernt langsam zu lesen. Er verliert die Kunst des Romans als eine Kunst der Erkenntnis, er verliert die Kunst des Lesens.
Die uralte und ursprüngliche Sprache der Poesie, die alles Wesentliche über die Welt ausspricht und immer formuliert, was Menschen nicht aussprechen können und nicht aussprechen dürfen, wird heute zur vom Aussterben bedrohten Sprache urbaner Verrückter. Indem wir Roman und Poesie aufgeben, geben wir das Menschsein auf, sofern wir noch Menschen bleiben können. Menschen brauchen Märchen, um Menschen zu bleiben. Diejenigen, die heute versuchen, anderen Menschen ihr Asylrecht zu entziehen, haben als Kinder gute Bücher schlecht gelesen.
Heute erleben wir, dass immer mehr Europäer wieder beginnen, an eine Utopie zu glauben. Аn eine politische, nationale, historische, künstlerische und sogar sprachliche Utopie. Doch Glück ist immer eine Utopie. Ich glaube nicht an eine Utopie. Ich glaube an das alte, wahre europäische Märchen mit seiner moralischen und künstlerischen Kraft.
Das Messer bohrt sich ins Herz. Ja, die Literatur macht uns unglücklich. Aber jeden auf seine Weise. Nur als Nachrichtenleser sind wir alle gleich. Literatur ist ein schlechtes Schmerzmittel, aber eine Nachricht im Newsfeed ohne Literatur ist nur ein sinnloser Schmerz. Märchen verleihen dem Schmerz Sinn. Märchen leben lange. Nachrichten nur eine Stunde.
Ein Buch wird über lange Zeit geschrieben. Eine Nachricht in ein paar Minuten. Ein Buch wird immer für die Zukunft geschrieben. Eine Nachricht nur für den Moment. Jedes Buch ist das Letzte. Letzte Nachrichten gibt es leider nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte mich heute bei der Stadt Leipzig herzlich bedanken ‒ für die Anerkennung und für diese große Ehre, den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung zu erhalten.
Ich bedanke mich bei Sieglinde Geisel für die wunderbare Laudatio. Danke meinem langjährigen Freund und Lektor, dem belarusischen Übersetzer Siarhiej Šupa und dem Verlag Viasna.
Danke dem belarusischen Verleger von „Europas Hunde“ Andrej Januškievič. Danke dem wunderbaren Verleger Leif Greinus, danke an das ganze Team vom Verlag Voland&Quist.
Danke meiner Agentin Maria Schließer. Danke dem Belarus Free Theatre und dem Theater im Exil Kupalaŭcy. Ich bedanke mich bei meinen Freunden Andreas Rostek und Dagmar Engel vom Verlag edition.fotoTAPETA aus Berlin.
Danke, lieber Thomas Weiler, für Deine grandiose, fantastische Arbeit an der Übersetzung von „Europas Hunde“ ins Deutsche ‒ ohne dein Talent und deine Liebe zu dem Buch hätte es nichts gegeben. Danke der wunderschönen deutschen Sprache, der deutschen Kultur und dem Land Deutschland, das mir Schutz und Sicherheit in dunklen Zeiten gegeben hat. Danke an alle alten Meister und mutigen Europäer und Exilanten, die mein Buch anspricht. Vor allem an Kafka und Joyce, Nabokov und Gombrowicz.
Danke meiner Frau, der Autorin Julia Cimafiejeva. Irgendwann in Minsk sagte sie mir: Schreib nun das Buch, das du dir wünschst. Nur du. Sei frei in deinem Schreiben. Ich habe es getan. Ich habe das Buch geschrieben und die Sprache Balbuta dafür erfunden. Es gibt in Balbuta zwei Worte für Begrüßung und Abschied: Bu samoje! Das bedeutet: Sei frei. Also, lasst uns frei sein.